Studer Heiri in Vietnam
Roman
Heiri schüttelt den Kopf und erwacht in einem Vorort von Hanoi. Er hat Kopfschmerzen und schwitzt. Er sieht die Strasse nur noch benommen. Kein Kopfschutz und zu wenig getrunken, resümiert Heiri. Er schüttelt den Kopf, kauft sich eine Flasche Wasser und trinkt sie in wenigen Schlucken leer. Verdammt, die Wirklichkeit ist schwieriger als das Leben im Ring, denkt er und holt sich gleich noch eine Flasche. Für alle Fälle. An seinen Kopfschmerzen ändert dies aber nichts.
Heiri fühlt sich angespannt und bereit zum Angriff. Immer, wenn er wo ansteht, wünscht er sich, dass der nächste Kampf bald beginnen würde. Beim Schwingen gab es klare Regeln und einen eindeutigen Feind. Man konnte sich auf ihn vorbereiten. Wenigstens das. Dann hört er ein Zischen. So hört sich Luft an, wenn sie einem Reifen entweicht. Ein alter Mann atmet schwer, als er aus seinen Rücken tritt und langsam die Fahrbahn überquert. Auf dem Weg auf die andere Strassenseite wird er mehrfach überfahren. Er lässt sich nichts anmerken und geht weiter: leicht gestresst zwar, aber offenbar nicht wegen des Verkehrs, sondern wegen der fehlenden Luft. Er schnaubt wie eine Dampflock, bis ihn ein Gewühl von stummen Menschen verschluckt.
Warum kommt mir immer der Mäni in den Sinn, wenn es ernst wird, denkt Heiri und fühlt sich in zwei gleichwertige Persönlichkeiten gespalten: den vorsichtigen Lehrer, der in Trachselwald Erstklässler unterrichtet und den verwegenen Agenten im Einsatz, der in Hanoi einen jungen Mann observiert.
Ja, es war Mäni, der einmal das Gefühl vor einem Kampf mit einem vollgepumpten Reifen verglich, bevor er von einer dünnen Nadel durchstochen wird. Und es war Mäni, der ihm beigebracht hatte, nie die Aufmerksamkeit zu verlieren – auch wenn einmal die ganze Luft weg sein sollte, was bei den Kräften, die beim Schwingen gegen den Brustkorb drücken, rasch möglich ist. „Im Unterschied zum Schwingen, interessiert sich niemand für dein wirkliches Leben. Die Leute wollen Sieger und Verlierer sehen: Tränen und Schmerz, Freude und Stärke. Wo dich der Schuh drückt, wo dich welche Verletzung schmerzt, ist nicht das Thema. Diese Dinge trägt jeder mit sich herum. Helden werden nicht geboren. Sie werden erst auf dem Schlachtfeld der Niederlage gross.“
Heiri trinkt, obwohl er keinen Durst mehr verspürt. Aber irgendwie kommt es ihm so vor, als würde er bereits fantasieren. Mäni hatte plötzlich etwas Berauschendes an sich.
Die handschriftlichen Aufzeichnungen stammten von Sam, wie Max eindeutig festgestellt hatte. Ganz offenbar hatte ihm bereits seine Unterschrift im Pass gereicht, um die entsprechenden grafologischen Gutachten durchführen zu können. Es waren Notizen, persönliche Schilderungen. Es gab eine Liste mit Namen und Adressen. Auch die Adresse von Sam war vermerkt. Aus welchen Gründen auch immer. Wenigstens hatte sie etwas Gutes an sich: Heiri hatte Sam problemlos gefunden.
Die Notizen handeln von Sepp und Sam und von Kindern, die aus ihrem Leben gerissen, verkauft und in der Prostitution landen. Es ist eine unglaubliche Geschichte, eine Geschichte, die nicht schlimmer sein konnte. Eine Geschichte, die einem den Glauben an das Gute raubt und die in gewisser Hinsicht so unglaublich ist, dass sie entweder nie ganz wahr, aber auch nie ganz unwahr sein konnte. Die Wahrheit ist immer ein dünner Faden. Er kann von jeder Seite zerstört werden. Wahrheit überlebte nicht durch Stärke, sondern durch Einsicht.
Heiri fühlt sich plötzlich nicht mehr wie der Agent im Ausseneinsatz, sondern als fürsorglicher Lehrer von Trachselwald, der jeden Schaden von seinen Kindern abwenden will. Heiri trinkt eine weitere Flasche Wasser leer. Schon geht es ihm besser. Das Kopfweh geht zurück. Und mit der Zeit gewöhnt sich ein Schwinger an den Schmerz. Er verliert seine Aussergewöhnlichkeit und damit auch seinen Schrecken.
Heiri zerquetscht die PET-Flasche auf dem Boden, bis sie die Grösse eines Eishockey-Pucks angenommen hat. Die Scheibe steckt er sich in seine Hose. Wer wusste schon, wofür sie noch gut sein konnte.
Sam ist 27 Jahre alt, könnte aber auch als 20-Jähriger durchgehen. Ein Mann, dessen Bild an jeder Litfasssäule hängen könnte. Ein Werbeträger. Ja H&M könnte Spass an ihm haben. Lifestyle von Zürich bis Tokio. Ein Schauder erfasst Heiri, als er an Sepp denkt. Er schnappt sich die zweite PET-Flasche und presst sie zusammen, bis sie die Leichtigkeit eines Schwamms angenommen hat. Kraft führt nicht immer zum gleichen Resultat. Mal macht sie hart, dann wieder besonders leicht.
Sam hatte tatsächlich die Figur, um Werbung für H&M zu machen. Er konnte aber auch als Sozialarbeiter durchgehen, der immer etwas ernsthafter wirkte, als er tatsächlich war.
Sams Jugendlichkeit und Schönheit steht wie die lebendig gewordene Litfasssäule einer H&M-Reklame auf einer vietnamesischen Hauptstrasse, die so voll ist, dass sie der Stau wie der Nachname eines gängigen Vornamens verfolgt.
Sam kann vieles sein: Asiate, Europäer oder einfach ein Mensch, der wie ein Asiate aussehen will oder eine Asiate ist, der einem Europäer verdammt nahe kommt. Sam steht vor dem Hauseingang und zieht sich einen Motorradhelm über. Dann braust er davon.
Heiri winkt energisch einem Töfffahrer, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der Mann ist schneller da, als Heiri winken kann. Der Junge mag knapp über 20 Jahre alt sein, erwachsen ist er jedoch bei Weitem nicht.
Heiri nimmt den Helm, den er ihm reicht, und setzt sich auf die schmale Sitzbank. Weil der Junge kein Englisch versteht, dirigiert ihn Heiri mit ausgestrecktem Arm. Der Junge gibt Gas und fährt in eine Seitenstrasse. Heiri flucht und legt seine Pranken wie einen gewaltigen Greifarm um die Hüfte des Jungen. Er muss nicht zudrücken, damit der Junge wie auf Befehl gehorcht. Von jetzt an ist definitiv klar, wer das Motorrad steuert.