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Studer Heiri unter Strom

Roman

Studer Heiri unter Strom

1.

Die Sonne ist hell. Sie ist die Mutter des Lichtes und macht den Unterschied zur Nacht, die der Dunkelheit zuarbeitet. Manchmal scheint die Sonne auch nachts. Selbst bei Temperaturen um die zehn Grad. Heute ist so eine Nacht. Vreni rennt auf die Kuppe zu. Sie ist auch von Weitem gut zu sehen. Heiri eilt ihr nach. Auch er ist nackt. Er erwischt sie im Niemandsland zwischen Pferdeweide und Besenbeiz. Sie fallen über einander her. Und sie lieben sich hemmungslos. Heiri hat noch nicht genug. Und Vreni steht auf und sagt: „Jetz isch gnue. Muesch noh ässe. Verdammi! Däich an Muni, wo muesch morn heibringe!“


2.

Der Schweiss besteht manchmal aus Schweiss. Und manchmal aus rääsem Emmentaler. Manchmal riecht ein Schwinger den Schweiss seines Gegners. Und manchmal den rääsen Emmentaler, den er sich selber eingerieben hat. Rääser Emmentaler gibt Kraft. Wenn ein Emmentaler rääsen Emmentaler an sich selbst wahrnimmt, wächst er über sich hinaus. Heiri ist Emmentaler durch und durch. Es muss ihm schon besonders schlecht gehen, wenn er sich rääsen Emmentaler einreibt. Er isst ihn nämlich für sein Leben gerne. Am liebsten auf heisser Rösti. Aber er hat Vreni versprochen, den Muni heimzubringen. Und dafür muss er jeden seiner Kämpfe gewinnen. Da ist alles erlaubt: selbst rääser, auf die nasse Haut geriebener Emmentaler Käse. Ein besseres Dopingmittel für einen Emmentaler Schwinger gibt es nicht.

Es ist Anfang März und die Lebensfreude wagt sich immer noch nicht aus ihren Löchern. Dafür ist es einfach zu kühl. Es weht ein eisiger Wind beim Schulhaus Stockhorn. Die meisten der 10 000 Zuschauer tragen dicke Jacken. Villiger Stumpen und Brissago ergeben ein dünnes Geflecht von Rauchpinseln, die dem Hellblau des Himmels auf den ersten Metern über der Haupttribüne ein feines Netz verleihen, das etwas Berauschendes an sich hat und beständig nach Süden driftet. Es weht eine kräftige Bise aus Norden.
Das Frühlingswetter in Konolfingen ist so ungewiss wie der Ausgang des grossen Emmentaler Schwinget. Noch hat die Sonne die Temperaturen nicht über die Zehn-Grad-Marke gehievt und schon hat es leicht zu regnen begonnen. Auf den Tribünen wird geflucht. Die Stumpen werden nass und die Rauchpinsel verdichten sich zu Nebelschwaden, die in Hals und Nase kratzen.

Die 86 Kämpfer verschwinden in der Aula oder holen sich an einem Imbissstand eine Bauernbratwurst mit einem grossen Stück Zopf. An einem Schwinget ist der Hunger ein ständiger Begleiter. Das Tagessoll von fünf Kämpfen weckt einen Kalorienbedarf, der einer Königsetappe an der Tour de France entspricht.
Auf den Hügeln liegt trotzig Schnee, die Wiesen wirken so unordentlich wie eine Frisur zehn Wochen nach dem letzten Frisör-Besuch. Der Frühling schlummert noch unter den Äckern und Wiesen. Er würde bald aufwachen müssen, um den Bauern das Jahr nicht zu vermiesen.

Es ist zu früh, um die Felder zu bestellen und für den ersten Schnitt auf den Wiesen. Der absterbende Winter ist so stur, als wäre er eine Glucke auf ihren Eiern, die sich Zeit lässt, ihre Kücken ins Leben zu entlassen.

Das Wetter im Emmental ist wie Vreni: Es verlangt viel ab und überrascht einen doch immer wieder aufs Neue.

Das Emmentaler Schwinget nähert sich langsam seinem Höhepunkt. Es ist 15 Uhr an diesem Sonntagnachmittag. Es ist noch immer kalt, aber die Wolken haben sich verzogen. Die Rauchpinsel der Stumpen ziehen vertikale Striche und lassen erahnen, wo die Ewigkeit beginnt.
Der Himmel liegt in einem matten Grau. Keine imposante Kulisse für den wichtigsten Tag der Emmentaler Schwinger.

Heiri befördert seinen Gegner in die Luft, als wäre er nichts weiter als ein Kartoffelsack, den es zu schultern gilt. Heiri packt ihn über seine rechte Schulter, ehe er ihn fallen lässt, so dass er heftig mit der Brust auf dem Sägemehl aufschlägt. Im nächsten Moment wirft sich Heiri auf ihn, fasst mit seinen Pranken unter seinen verschwitzten Oberkörper und wendet ihn wie ein Stück Fleisch auf dem Grill. Das Volk jubelt.

Soeben hat Heiri seinen vierten Sieg am Emmentaler Schwinget eingefahren. Auf den Tribünen verkünden Massen-Plops das Öffnen neuer Flaschen Gurten-Bier. Das Zischen der Streichhölzer schmerzt wie der scharfe Schnitt einer Sense in den Ohren. Die Glut an den Zigarren wird grösser. Gierig ziehen die Zuschauer den Rauch in die Lunge und spülen mit einem kräftigen Schluck Bier nach. Dunst entweicht aus gierigen Mündern. Rauchpinsel zeichnen Notenschlüssel. Hätten die Emmentaler eine Hymne, sie würden singen wie ein Rockstar.

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