Ansichten aus Stein
Roman
Der Einschreibebrief lag auf der Post. Bis zum 28. konnte er ihn abholen. Selm legt den Zettel, den der Briefträger ausgefüllt in den Briefkasten geworfen hat, auf den Küchentisch. Er ist müde und hat Angst.
Für einen Moment will er den Zettel zerknüllen und ihn fortwerfen. Er hat die Nacht im Auto verbracht, war mit seinem kleinen Mazda zur Wohnung von Konstanze gefahren und überrascht, dass dort das Licht brannte. An den Fenstern gab es keine Gardinen und Vorhänge. Lediglich Läden, die aber nie geschlossen waren.
Selm war instinktiv die Treppe hochgestiegen, dieses Mal nicht wie jemand, der sich verstecken musste, sondern wie einer, der sich hier auskannte, in gewisser Weise öfters zu Besuch war. Er lauschte an der Wohnungstür und hörte die Anweisungen von Konstanze.
Sie liess sich von Björn massieren und Selm glaubte nicht, wie ihm geschah. Er lachte leise in die Innenfläche seiner linken Hand. Er presste sie auf den Mund, damit kein Laut entweichen konnte. Wenn er nicht aufpasste, konnte es jeden Augenblick mit der Ruhe vorbei sein. Selm atmete tief ein und liess die Luft mit einem Schub entweichen. Er beruhigte sich mit jedem Atemzug. Vorsichtshalber behielt er die Hand aber vor dem Mund.
Konstanze suchte immerzu Nähe, sie bediente sich der Körperwärme anderer. An die Wärme, die sie dabei abgab, dachte sie nicht. Sie nahm auch nicht wahr, dass andere ihre Wärme brauchten. Sobald Konstanze warm genug hatte, löste sie sich, ging auf Distanz. Sanfte Übergänge waren ihr fremd. Zärtlichkeiten waren Mittel zum Zweck ihren Wärmespeicher zu füllen, eine ablehnende Geste, ein böses Wort der Versuch, den Speicher abzustellen.
Konstanze holte sich die Liebe, die sie brauchte. Es war wie im Supermarkt. Preis und Qualität mussten übereinstimmen. Ausgewählt wurde was schmeckte, aussortiert wovon sie genug hatte. Sex war für sie wie ein Restaurantbesuch. Sie liess sich bedienen, liess andere bezahlen und machte sich nichts daraus zu sagen, wie es gewesen war; gut oder schlecht. Sie nahm sich, was sie brauchte und hielt es für normal, dass jeder so war. Wich jemand von dieser Praxis ab, konnte sie nichts für ihn tun. Er musste sich schliesslich mit Selbstmitleid begnügen.
Selm erinnerte sich daran, wie lange er darum bemüht war, ihr sich selber zu erklären. Er wollte ihr verständlich machen, dass nicht nur andere auf sie einwirkten, sondern dass ihr Handeln selbst Konsequenzen hatte. Und je mehr er über seine Bemühungen nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie erfolglos er dabei gewesen war. Sie hatte nichts verstanden. Wenigstens nicht das, was er ihr zu erklären versucht hatte.
Konstanze war anders: in dem, was sie verstand und in dem, wie sie von anderen verstanden werden wollte. Selm empfand sie wie ein in sich geschlossenes Gefäss, in dem nichts anderes als sie selbst Platz hatte. An Konstanze gab es keine offenen Fragen. Sie definierte sich eindeutig, war ohne Widersprüche. Selm hatte diese Klarheit anfänglich gemocht. Sie schien ihm ein Garant gegen Missverständnisse und falsche Schlussfolgerungen zu sein. Ein Mensch ohne Geheimnisse ist wie ein offenes Feld. Die Perspektive ändert sich nur mit dem jeweiligen Standort.
Selm war ständig in Konstanze unterwegs. Vielleicht war sie deswegen für ihn jeden Tag wie neu. Er war erregt von ihrer kühlen Art und übersah, dass er irgendwann doch damit begann, sich Bilder von ihr zu machen, die es in Wahrheit gar nicht gab. Er irrte sich in ihr immer häufiger und gab ihr anschliessend die Schuld, weil sie nicht das war, was er sich vorgestellt hatte. Konstanze war nichts anderes als die Frau in der Wohnung, die sich gerade den Nacken massieren liess und dabei laut stöhnte. Sobald es vorbei war gab es auch keine Massage mehr. Björn würde seine Socken wieder anziehen, sich im Bad waschen und rasch auf neue Gedanken kommen müssen, um ihr zu folgen. Nach solchen Momenten der Lust machte sich Konstanze rasch davon, auch wenn sie blieb; im selben Raum, ja sogar im gleichen Bett. Sie war trotzdem in dem, was soeben geschehen war, nicht mehr zu fassen.