In Liebe Sheila
Zwei, drei Schritte weiter. Das Licht steht in den Luken und Ritzen still. Es füllt sie aus, reicht aber nicht aus, um das Innere der Halle zu beleuchten. Jamil öffnet eine der Kisten, die Zweite in der vierten Reihe. Er entnimmt ihr eine Weste, die er sich überzieht. Dann folgt ein modischer Kittel und zuletzt die Hose. Der Kittel ist neu, mit Karomuster und schwarzen Knöpfen versehen. In den Innentaschen findet er ganze Dollar-Bündel, eingepackt in dünne Folien. Jamil fackelt nicht lange und stopft das Geld in die Hosentasche. Die Folien lässt er verschlossen. Er wirft einen Blick auf die Metallboxen, die er dem Alten abgenommen hat und postiert sie dort, wo sie abgeholt werden.
Der zwölfte Januar ist ein gesichtsloser Tag, der sich in die Reihe überflüssiger Tage einreiht. Die Menschen gehen achtlos an ihm vorbei und auch er nimmt sie nicht wirklich zur Kenntnis.
Der Hafen besteht aus hohen Lagergebäuden. Die meisten stehen leer. Lager rechnen sich nicht mehr. Morgen muss alles, was heute gekauft wird, weg sein.
Das Pier, wo die grossen Dampfer anlegen, ist mit etwas Südstaatenromantik aufgepeppt. Schiffe ankern hier nur noch, weil sie es schon immer getan haben. Die grossen Frachtschiffe haben aber deutlich weniger Tiefgang. Vieles ist auf die Highways oder die Bahn verlagert worden. Der Mississippi ist eine Fahrt in die Vergangenheit. Vicksburg unterscheidet sich in diesem Punkt nicht vom Fluss. Auch die Stadt lebt immer häufiger von ihrer stolzen Vergangenheit, der grossen Schlacht, General Grant, dem Sieg über den Süden. Gerade hier, wo die Ausbeutung ihren entscheidenden Sieg errungen hat, soll ein blutiges Zeichen gegen den Erzfeind gesetzt werden.
Die Räder des Dampfers schaufeln hektoliterweise trübes Flusswasser. Bunte Lichter schimmern aus den kleinen Fenstern. Das Schiff ist weiss gestrichen. Er verfügt über mehrere Etagen. Jamil fasst sich in die Innentasche des Kittels und holt einen Voucher hervor. Das Schiff wird in zehn Minuten einlaufen und eine Viertelstunde später wieder in den Fluss stechen. Was bedeutet Zeit, wenn die Ewigkeit so nahe ist, denkt er. Er versucht sich zu erinnern, er ruft Bilder in seinem Gedächtnis ab, sucht nach Namen und Geschichten und findet nichts mehr. Ganz leise betet er. Allah ist gutmütig, unbeugsam und nachsichtig. Seine Lippen bewegen sich. Er wischt mit den Fingern darüber, um sie zum Verstummen zu bringen. Er steht dreihundert Meter vom Pier entfernt und möchte am liebsten in die Knie gehen und Richtung Mekka blicken.
*
Aus welcher Richtung Talib gekommen war, blieb Jamil schleierhaft. Plötzlich spürte er seine Hand auf der Schulter. Noch ehe er reagieren konnte, lag er in seinen Armen. Sie stiegen ein in einen grünen Toyota und fuhren zurück auf die Hauptstrasse. Die beiden Männer sassen hinten und sprachen kein einziges Wort. Nach kurzer Zeit stiegen sie aus, wechselten das Fahrzeug und fuhren in die entgegengesetzte Richtung. Das wiederholte sich einige Male. Sie machten das so geschickt, dass ihnen niemand folgen konnte. Am Flughafen drückte ihm Talib einen Reisekoffer und eine Umhängetasche in die Hand. «Hier sind die Dokumente, dein Pass. Alles Gute!», sagte Talib und war weg.
Der Flug nach Frankfurt-Hahn mit Air Berlin wurde von Condor und Thomas Cook durchgeführt. Jamil sass in Reihe 29, Sitz D. Er genoss die Beinfreiheit, die ihm die Nähe zum Mittelgang gewährte. Er ass Geflügelfleisch mit Kartoffelpuree, Erbsen und Zwergrüben. Zum Nachtisch gab es ein quadratisches Stück Kuchen, dem eine dunkelrot gefärbte Schicht Gelatine übergestülpt war. Der Kaffee war kräftig, das Personal freundlich. Jamil flog in die Nacht, in einem gut gefüllten Flugzeug, das vier Stunden später in Frankfurt landete. Den Mann, der auf ihn wartete, kannte Jamil gut. Coman konnte sich ein schelmisches Lachen nicht verkneifen, als er ihn in die Arme schloss und zu einem schwarzen Audi A3 begleitete. Sie verstauten das Gepäck und brausten in eine Nacht, die länger dauern würde als der nächste Tag. Jamil stellte die Uhr um eine Stunde vor. Er glaubte aber nicht, dass er etwas verpasst hatte.
Zeit zum Reden, Zeit für Berührungen, Zeit für Pläne und Zeit zum Abschiednehmen. Coman erzählte von seinem Flug mit einem Linienflugzeug von Amman nach Frankfurt. Es sei ja so einfach durch die Welt zu reisen. Und tatsächlich sei daran nichts Verbotenes. Sie hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, sie seien unbeschriebene Blätter. Die falschen Pässe seien so gut, dass sie jeder Kontrolle standhalten würden, die Pläne so ausgefeilt, dass nichts schiefgehen könne. «Wir wissen nicht, wozu wir berufen sind. Wir wissen lediglich, dass unser Leben in der Ewigkeit schon begonnen hat. Das Hier ist ein Parallelleben. Wir leben hier und dort», sagte Coman und bot Jamil ein bauchiges Glas an, in das er eine dunkelgelbe Flüssigkeit schüttete: Whisky. Jamil wand sich, zögerte. Coman lachte, nahm einen Schluck aus der Flasche. Er hielt seine Hand, drückte zu, nicht stark, aber bestimmt. Er führte ihm das Glas zum Mund. Jamil trank und hustete. Sein Rachen brannte. Einen Teil des Whiskys spuckte er aus. Er fiel auf schlecht gewienerten Holzboden, hinterliess dunkle Flecken. Coman zog erschrocken den Kopf ein und hielt die Arme schützend vor das Gesicht. Jetzt mussten beide lachen. Das Lachen klingt nach. Es ist auch jetzt noch zu hören, als Jamil, ohne eine Kontrolle zu passieren, über die Brücke geht und den Dampfer betritt. Er lacht nach allen Seiten, schüttelt Hände von Menschen, die er nicht kennt. Er lässt sich einen Cowboy-Hut aufsetzen, weil der Wilde Westen noch immer in jedem richtigen Amerikaner hockt, und lässt sich einen Drink geben. Er nippt daran und leert das Glas. Er ist angekommen.
Es ist Mittag geworden und leichter Nieselregen hat eingesetzt. Der Mississippi beginnt sich im aufgekommenen Wind zu bewegen. Fast sieht es so aus, als hätte er sich eine leichte Erkältung geholt: Er hustet, räuspert sich und schnäuzt die Nase. Die Spieltische auf dem Dampfer sind auf mehrere Etagen verteilt. Jamil geht auf das unterste Deck. Das Herzstück des Schiffs ist ausgehöhlt, die Treppen winden sich durch einen riesigen Lichtschacht. Er transportiert nicht nur das Licht, sondern auch den Lärm der Automaten und Croupiers.
Das Innere des Schiffs ist einem Südstaatenhaus nachempfunden. Die Pfeiler, die das Holzgerüst zu tragen haben, ziehen sich offen durch alle Decken. Man kann daranlehnen, sich etwas ausruhen, Gewinne und Verluste verbuchen und anderen Spielern zuschauen. Aus einem grösseren Raum dringt Western-Musik. Eine ältere Frau hängt sich bei ihm ein und drängt ihn in den Saal. Jamil weiss nicht, wie ihm geschieht, als er plötzlich auf einer Tanzbühne steht und seine Beine Bewegungen vollführen, die ihm selbst fremd sind.
*
Zwei Tage später führte ihn seine Reise nach Toronto. Wieder erhielt er neue Papiere und anderes Gepäck. Sein Haar wurde gebleicht. Die Passkontrollen waren auch dieses Mal ein Kinderspiel. In Kanada lächelte ihm der Zöllner sogar zu und winkte ihn vorbei. Karif zeigte sich abwesend, er senkte den Kopf, als Jamil ins Freie trat. Er erkannte ihn sofort wieder.
Wälder legten wie Teppiche herrliche Landschaften frei. Der Nissan-Transporter war neu und tuckerte geräuschlos Richtung Süden. «Wir wollen sichergehen und passieren die Grenze auf einem alten Pfad, den geländegängige Fahrzeuge problemlos meistern», sagte Karif. «Zur Sicherheit habe ich Kameras und Presseausweise dabei. Wir haben den Auftrag, für eine britische Zeitung das Grenzland von Kanada in einer Fotoreportage festzuhalten. Die Zeitschrift gibt es tatsächlich. Ein entsprechender Auftrag liegt vor, sofern es Rückfragen geben sollte.» Karif fuhr zügig, aber kontrolliert. Jamil war schleierhaft, warum er sich in dem fremden Land nach so kurzer Zeit so gut auskannte. Sie trafen auf einige Ausflügler, die ihnen fröhlich zuwinkten. Sie entfachten an einer Raststätte ein Feuer und brutzelten Steaks. Die Stimmung zwischen ihnen war gut. Musik war zu hören. Hier trank man das Bier aus Büchsen. Leere wurden zwischen Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt, bis sie nur noch die Grösse eines Eishockey-Pucks hatten. Dann landeten sie mit viel Gegröle in einem der zahlreichen Abfallbehälter.
«Wenn mein GPS stimmt, dann haben wir es geschafft.» Karif stoppte nach zwei weiteren Stunden Fahrt auf Nebenstrassen in einem kleinen Kaff, das über kein Ortsschild und damit auch keinen Namen verfügte. Es war dunkel geworden und Karif hielt auf einen Zeltplatz zu. Er erledigte die Formalitäten und entschied sich für einen Platz im hinteren Bereich. Karif zahlte im Voraus, weil sie morgen in aller Früh weiterfahren müssten, wie Karif erklärte. Er war über einen Meter 80 gross und trotzdem erstaunlich schlank. Als könne Karif seine Gedanken lesen, sagte er zu ihm: «Nicht wahr, in diesem Land fallen dir Leute auf, die über keine normale Statur verfügen. Ich kenne kein Land mit so vielen Dicken...»
«...und Hässlichen», ergänzte Jamil.
«...und Hässlichen», wiederholte Karif. «Aber denk daran: Zeig deine Abscheu und Verachtung nie. Sie könnten dir zum Nachteil gereichen und unsere Mission gefährden.» Karif entfachte einen Gaskocher und bereitete Tee zu. Sie tranken ihn in kleinen Schlucken. «Hier hat das Lachen etwas Hysterisches. Es ist übertrieben. Du erinnerst dich an unsere Ausbildung. Wir haben doch einmal Amerikaner und Terrorist gespielt. Weisst du noch?»
«Es war eine der komischsten Übungen, die wir je gemacht haben», antwortete Jamil. «Masud war böse, weil wir nur Blödsinn im Kopf hatten.»
«Coman hat den sterbenden Schwan gespielt und den amerikanischen Präsidenten imitiert. Das war wirklich gelungen.»
«Ja, so war es.» Jamil lachte befreit auf. Die Stimmung war gelöst. Sie stiegen in ihre Schlafsäcke und beteten; jeder für sich ein anderes Gebet.
«Chicago erreichst du mit der Eisenbahn. Du nimmst den Zug in der nächsten Stadt. Dann trennen sich unsere Wege.» Am nächsten Morgen, eine Meile vor dem Bahnhof, die Sonne zog eben erst ein dünnes gelbes Band an den Horizont, umarmten sich die beiden.
«Der Zug fährt in einer halben Stunde. Bleib wachsam. Allah sei mit dir.» Jamil lief ohne zurückzublicken. Er lief in eine unbekannte Richtung. Als wäre er ein Ball, der in Bewegung gesetzt worden war und weitergeschubst wurde. Schliesslich bis zum Michigansee.
Es war Abend geworden, das neue Jahr hatte sich noch nicht eindeutig für ein bestimmtes Wetter entschieden und die Leute benahmen sich so, als hätten sie viel zu tun. Jamil kannte ihren Charakter. Er war nicht zum ersten Mal im Westen. Dann stieg er aus dem Zug und wurde äusserlich so wie sie.
Seif trug Jeans und hatte eine Zeitung bei sich. Er lief einfach neben ihm her, sagte kein Wort. Jamil folgte ihm blind. Die Uhr tickte. Jetzt waren sie nur noch die Waffe Gottes. Sie führten aus und fragten nicht mehr nach. Sie spürten keinen Hass in sich. Sie waren bereits auf dem Weg ins Paradies. Sie kamen spätabends in einer kleinen Dachwohnung im Zentrum von Chicago an.
Als Allererstes beteten sie. Dann erzählte Seif die Geschichte vom alten Fuller, der in den Bergen von Vicksburg lebte und drei Metallbehälter besass. Diese sollte er an sich bringen. «Morgen fährst du weiter mit dem Zug, steigst ab im Hotel Hampton in Vicksburg, wo du einen Zündschlüssel für einen kleinen Daewoo finden wirst. Die Karte mit der Wegbeschreibung musst du vernichten, so wie du überhaupt keine Spuren hinterlassen darfst. Wenn du alles erledigst hast, begibst du dich zum Hafen. Am 6. Januar kurz vor Mittag trifft dort ein riesiger Mississippi-Dampfer ein. Du steigst an Bord und jagst dieses gottverdammte Ding in die Luft.»
*
Der Zünder ist durch eine Schnur, an der ein kleiner Plastikring befindet, mit dem Sprengstoff verbunden. Jamil zurrt die Weste fester, als sich die Frau an ihn schmiegt. Ihr furchiges Gesicht ist mit Puder geglättet worden, dicker Lippenstift zerbröselt auf ihren Lippen. Jamil stösst die Frau zurück und rennt aus dem Raum. Dann reisst er sich die Jacke vom Körper und löst die Sprengstoffweste. Er schnappt sich einen Rettungsring, bindet die Weste an einen Träger und verbindet das dünne Nylonseil des Rettungsrings mit dem Abzug. Er wirft den Rettungsring in die Luft und springt gleichzeitig in den Fluss. Hinter sich hört er eine gewaltige Explosion. Dann spürt er einen Schmerz, ein herumfliegendes Holzstück hat ihn am Hinterkopf erwischt. Jamil verliert kurz das Bewusstsein. Er rettet sich aber noch rechtzeitig vor dem Ertrinken. Die Explosion hat ein grosses Loch in den mehrstöckigen Aufbau gerissen. Feuer züngelt aus den beiden Hälften. Schreie sind zu hören. Plötzlich klatscht eine riesige Welle an seinen Hinterkopf. Jamil taucht tief ins Wasser. Er verschluckt sich, die Augen tränen. Er muss husten und japst nach Luft. Das Ufer ist weiter entfernt als gedacht. Jamil sieht die Frau vor sich, die sich an ihn geschmiegt hat. Er sieht ihren gierigen Blick, ihre schwitzende Haut, ihre Lüsternheit, riecht billigen Schweiss und teure Maske. Er hat instinktiv reagiert und alles richtig gemacht. Niemand hatte ihm schliesslich gesagt, er solle sich selber in die Luft sprengen.
Die Schreie sind laut und hoffnungslos. Sie verlieren auch durch Distanz nichts an ihrem Schrecken. Jamil schwimmt, wenn er nicht gerade Wasser ausspuckt oder dem Unrat der modernen Zivilisation ausweichen muss. McDonald’s ist in der Regel so nahe am Geschehen wie der Nachrichtensender CNN.
Das Wasser wird ruhiger und wärmer, je näher er dem Ufer kommt. Dafür weht eine Brise, die Jamil daran erinnert, dass es Winter ist. Das Paradies konnte warten, das Paradies war ebenso wenig bereit ihn zu empfangen, wie er bereit war, die letzte Tür zu öffnen. Dass es für diese Erkenntnis eine schlecht geschminkte und übel riechende Amerikanerin kurz nach der Menopause brauchte, konnte reiner Zufall sein, aber auch mit seiner Aversion gegen stark geschminkte Frauen zusammenhängen.
Der Dampfer ist auseinander gebrochen. Die beiden Teile versinken im Wasser. Nur Bug und Heck sind noch zu sehen. Jamil klammert sich an Treibgut und kommt dem Ufer immer näher. Wenig später hat er festen Boden unter seinen Füssen. Er ist klatschnass und liegt erschöpft auf dem sandigen Boden. Als er den Kopf hebt, sieht er direkt in den Lauf einer Pistole. Ein Wasserfilm liegt über seinen Augen. Er nimmt auch den Tod nur verschwommen wahr. Ihm ist schwindlig. Unkontrolliert spuckt er Wasser aus und windet sich. Jamil blickt zu einem älteren, dicken Mann hoch, der ihm nicht unbekannt ist. Er sass gegenüber dem Café Cairo, trank Cola und las Zeitung. Sein weisses Hemd war durchtränkt von dunklem Schweiss. Jamil stirbt, als er die Augen schliesst. Die Kugel durchschlägt seinen Schädel. Das Paradies konnte offenbar doch nicht länger auf ihn warten.